Dich tanzen zu sehen by Maggie Shipstead

Dich tanzen zu sehen by Maggie Shipstead

Autor:Maggie Shipstead [Shipstead, Maggie]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783423428637
Herausgeber: Deutscher Taschenbuch Verlag
veröffentlicht: 2015-09-30T16:00:00+00:00


III

April 1986

Südkalifornien

Wenn Joan unterrichtet, geht Harry nach der Schule manchmal zu seinem Freund Dale, und manchmal kommt er ins Studio, wo er hinter dem Empfangstresen oder im Vorraum auf dem Fußboden vor dem großen Studiofenster Hausaufgaben macht. Joan hat ihn gefragt, ob er nicht Lust hätte, es mit dem Tanzen zu versuchen, aber er hat höflich Nein gesagt, wie er auch schon zu Fußball, Baseball, Tennis und Karate Nein gesagt hat. Ratlos haben sie und Dales Mutter beide Jungen zum Schwimmen angemeldet. Harry geht schwimmen, ohne sich groß zu beklagen, aber im Grunde ist er ein Stubenhocker, verträumt und nachdenklich und mit einem Hang zu plötzlichen, zeitraubenden Interessen (Astronauten, Eisenbahnen, U-Boote), die halbwöchentliche Ausflüge in die Bücherei erfordern. Die Bücher von dort verschlingt er in rasendem Tempo und schaufelt Informationen in sich hinein wie Kohle in einen Heizkessel.

Die kleinen Mädchen in Joans Kursen tragen schwarze Trikots und rosa Strumpfhosen und haben das Haar zu Knoten aufgesteckt, die sie mit leuchtenden Gummis oder kleinen, gehäkelten rosa Netzen schmücken. Ihre Arme und Beine sind zu dünn oder zu dick; ihren Körpern fehlt jede Anlage zur Anmut, aber sie sind von Eifer und kindlichem Überschwang erfüllt. »Ihr müsst euch hinstellen wie Truthähne«, sagt Joan und deutet auf den eigenen durchgestreckten Brustkorb, ihre leichte Gewichtsverlagerung nach vorn. »Stellt euch auf die Fußballen, aber nicht zu weit nach vorn.« Joan trägt das Gleiche wie ihre Schülerinnen, ergänzt um einen durchscheinenden schwarzen Rock.

Sie hat besondere Freude daran, Mädchen zu unterrichten, die gerade mit dem Spitzentanz beginnen. Zur Abschreckung zeigt sie ihnen die eigenen Füße, die schwieligen Verwachsungen, den Fußnagel, der einfach aufgehört hat zu wachsen, die dicke gelbe Hornhaut. Sie fragt sie: »Wollt ihr immer noch?« Die Mädchen wollen. Joan erzählt ihnen, wie sie früher, als sie in der Compagnie getanzt hat, jeden Tag ein Paar Schuhe verbraucht hat. Alle Tänzerinnen hatten maßgefertigte Schuhe. Ihre kamen aus London. Einmal war sie in die Fabrik gefahren und hatte den Mann kennengelernt, der ihre Schuhe herstellte, und er hatte darum gebeten, ihre Füße sehen zu dürfen, weil er wissen wollte, ob sie so waren, wie er sie sich vorgestellt hatte. Joan zeigt den Mädchen, wie man die Satinbänder annäht und die Spitze aufraut. Sie macht vor, wie man sich die Zehen umwickelt und die Schuhe mit Lammwolle auspolstert. Sie führt sie zu dem Kasten mit Kolophonium und lässt sie nacheinander probeweise in den klebrigen Staub treten. »Eines Tages«, sagt sie ihnen, »wird jede von euch ihre eigene Methode haben, die Schuhe genau richtig hinzubekommen.« Anschließend führt sie die Mädchen an die Stange, und alle sieben stellen sich auf wie Giraffenbabys: spindeldürr, mit zitternden Knöcheln. »Erste Position, Blick zur Stange, Plié, auf geht’s, meine Damen, und Relevé, und hoch auf die Zehenspitzen, über den Fuß rollen, über den ganzen Fuß, bis ihr auf der Spitze steht. Wieder abrollen und Cambré zurück. Denkt dran, nach unten zu drücken, um hochzukommen, und euch nach oben zu strecken, wenn es nach unten geht. Jetzt noch einmal in der zweiten Position.« Beim ersten Mal sind es nur ein paar Minuten, aber sie sehen schon fast wie Tänzerinnen aus.



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